Die Ausstellung »Künstler und Propheten« in der Frankfurter Kunsthalle Schirn will eine geheime Geschichte der Moderne erzählen. Dabei vergisst sie einige Details.
Die Mitarbeiterin der Kunsthalle Schirn nickt ernst und bedeutungsvoll, als sie ihrem Führungsgast erklärt, eigentlich müsse man die Texte der ausgestellten Broschüren und Briefe alle durchlesen: »Da merkt man erst, wie viel die sich dabei gedacht haben und was da alles dahintersteckt.« Ehrfürchtig schauen die beiden nun in Richtung der nächsten Vitrinen voller Papier, bevor sie dann doch weiter zu den bunten Bildern Friedensreich Hundertwassers eilen. In den Vitrinen der Frankfurter Ausstellung befinden sich die textlichen Hinterlassenschaften der »Propheten«, die »eine geheime Geschichte der Moderne« mit Künstlern wie Joseph Beuys, Egon Schiele, Jörg Immendorf oder Friedensreich Hundertwasser verbinden soll.
Diese selbsternannten »Künstler-Propheten« stellen eine illustre Schar von Gurus und Aussteigern dar, die in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg und dann in den Nachkriegs- und Inflationsjahren der Weimarer Republik von sich reden machten. Als der Nationalsozialismus die Macht übernahm, seien sie bereits »Legenden« gewesen, wie es in der Diktion der Ausstellung heißt. Die Reihe beginnt mit dem Maler und Kommunengründer Karl Wilhelm Diefenbach und seinem Schüler Gusto Gräser – beide haben von den Sandalen bis zum wallenden Haar den Jesus-Look und das Erscheinungsbild der Alternativen nachhaltig geprägt. Nach dem Krieg tritt Johannes Baader hinzu, der sich selbst als Oberdada bezeichnete, dann die »Inflationsheiligen« – lauter selbsterklärte Heilande der frühen zwanziger Jahre, allesamt Meister des Selbstmarketing und der Selbstdarstellung, auf der Suche nach Gefolgschaft. Eine Sammlung von Postkarten des Jesus-Darstellers Gustav Nagel, die ihn in seinem »Paradiesgarten« zeigen, den Tausende von Besuchern gegen Eintrittsgeld besichtigten, ist vielleicht der Trash-Höhepunkt der Ausstellung.
In einen »sozialhistorischen Kontext« ordnet die Ausstellung das trotz Ankündigung nicht ein. Im Gegenteil: Das tiefsinnige Unsinnsgeraune der legendären Propheten soll offensichtlich beeindrucken und nicht etwa irritieren. Eine historische Einordnung würde da wahrscheinlich nur stören. Kurze Erklärungen gibt es dennoch, mit bizarren Ergebnissen: So wird der Begriff Lebensreform nicht einmal erwähnt, obwohl Diefenbach und Gräser zu den prominentesten Vertretern der Bewegung zählten. Auch wird unterschlagen, dass ein erheblicher Anteil des vorgestellten Personals zur völkischen Subkultur gehörte. An fehlender Forschung kann es nicht liegen, in den vergangenen zwei Jahrzehnten ist zu diesem Thema viel publiziert worden und die Verstrickungen und Hintergründe sind alles andere als geheim. Zudem machte der Schweizer Kurator Harald Szeemann die Lebensreformer vom Monte Verità mit einer ersten großen Ausstellung bereits vor 35 Jahren bekannt.
Tatsächlich ist die Figur des Propheten und seiner lebensreformerischen Agenda faszinierend. So groß die Verlockung auch ist, das Auftauchen von Sekten, spiritueller Sinnsuche, Aussteigern, Vegetarismus, freier Liebe und Jesus-Latschen den Jahren nach 1968 zuzuschreiben; all diese Phänomene wurden bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts erprobt und fanden in den zwanziger Jahren einen ersten Höhepunkt. Als ungebrochene Geschichte kann diese Entwicklung jedoch nicht erzählt werden. Oder fragt sich keiner der Besucher, wieso Fidus alias Hugo Höppener seine Tempelentwürfe, die bis heute jedem Setdesigner einer Phantasy-Serie Ehre machen würden, 1905 ausgerechnet bei der »Richard Wagner Gesellschaft für germanische Kunst und Kultur« präsentierte? Denkt sich niemand etwas bei einem Blick über all die völkischen Broschüren, die so harmlos in den Auslagen präsentiert werden? Vielleicht käme ja der eine oder andere doch ins Grübeln, wenn er wüsste, dass etwa die »Christrevolutionäre« eine Synthese aus Ghandi, Hitler und Lenin herbeiträumten. Streng vegetarisch, versteht sich.
Es gibt seltsame Leerstellen in dieser Ausstellung. Die Künstler-Propheten brachen ihre schrägen Darstellungen keineswegs ironisch, es war ihnen ernst. Die Diätvorschrift als Heilsplan zur Errettung der Welt, das maßlos übersteigerte eigene Sendungsbewusstsein, die Verkündung der nahenden Apokalypse und die Pose des Weltenretters: Kleine und große Führer waren sie alle. Und als solche Ausdruck ihrer Zeit.
Die Ausstellung in der Schirn konnte nicht ganz auf einen dezenten Hinweis zum historischen Hintergrund verzichten – bei Hitler wird es nämlich ernst. Also heißt es bei der Präsentation von Arbeiten Friedrich Schröder-Sonnensterns, fast schon am Ende der Ausstellung und geradezu beiläufig, sein Werk habe Elemente parodiert, die »die Rhetorik der Inflationspropheten und des ›Dritten Reichs‹ verknüpften«. Schröder-Sonnensterns krakelige Buntstiftzeichnungen von Napoleon-Propheten und Scharlatanen, alle garniert mit schlaffen Penissen – die Kunstgeschichte hat sich noch nicht entschieden, ob sie diese Bilder nicht primär einer psychischen Erkrankung ihres Urhebers zuschreiben möchte –, sind tatsächlich hochinteressant. Einen genaueren Blick auf die ideologischen und historischen Bezüge, in denen sich das Zusammenwirken von »Propheten« und Künstlern entwickelte – Jugendbewegung, völkisches Denken, Antisemitismus, die Auflösung traditioneller religiöser Milieus, Krisenerfahrung und Großstadtfeindschaft – ersetzen sie nicht.
Antworten liefert die Ausstellung keine, entscheidende Fragen werden eher zufällig gestellt. Wie kommt es, dass Fidus sein Leben lang Tempel und arische Lichtgestalten zeichnete, während Frantisek Kupka zwar auch in brav symbolischer Manier mit Tempeln und Sphinxalleen begann, aber bereits in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zur Abstraktion fand? Und was ist eigentlich mit Jörg Immendorf 1968 passiert? Da sind seine frühe Arbeiten aus den Sechzigern, die freundlich-ironisch das weltverbessernde Gurugehabe seines Lehrers Beuys karikieren – eine Wand weiter hängen Bilder aus den frühen siebziger Jahren, die mit Anklängen an naive Malerei Vietnam-Demonstrationen und DKP-Wahlkampfaktionen zeigen. Das ganze Elend des Sektenwesens der K-Gruppen wird hier schlagartig sichtbar. Klar wird allerdings auch, dass die Zeichnungen keineswegs mehr ironisch gemeint waren. Genauso wenig wie die Agitproparbeiten Heinrich Vogelers, die in der Ausstellung direkt gegenüber hängen. Warum Vogeler, der mit Jugendstil begann, nach dem Ersten Weltkrieg eine Kommune im niedersächsischen Worpswede gründete, schließlich »Arbeiterstudenten auf einem Sowjetgut« malte und die Geburt des »Neuen Menschen« erwartete, erschließt sich nur, wenn man einen Blick auf das historische Erleben dieser Generation und die Konjunktur von Ideologien wirft. Informationen hierzu bietet die Ausstellung nicht.
Die Ausstellung würde vermutlich gern lauter nette Geschichten erzählen. Vom »kreativen Handeln zum Wohl der Gemeinschaft«, von Beuys und seinem »rettet den Wald« bis zu Hundertwassers »ganzheitlicher« Kunstauffassung – und alles irgendwie mit den etwas schrägen »irrationalen«, aber doch auch sympathischen »Propheten« in Zusammenhang bringen. Aber es weht den Betrachter ein kalter Schauder an, wenn er erst die mit großer Geste predigenden Heilande betrachtet hat und dann den überlebensgroßen Beuys, der mit ausgreifendem Schritt auf einen zukommt; oder die Fotografien vom 1920 stattgefundenen Zug der »Neuen Schar« durch Thüringen, einer hysterischen Massenbewegung, die ihrem Propheten Friedrich Muck-Lamberty durch Kleinstädte folgte, Volkstänze und Reigen aufführte und die Revolution der Seele am Lagerfeuer verkündete. Der Prophet immer umgeben von Kinderscharen, der Rattenfänger von Hameln lässt grüßen.
Was bleibt, ist eine Ausstellung mit interessantem historischem Material und einigen sehr schönen Bildern etwa von Egon Schiele – die aber etwas willkürlich ausgewählt wirken. Und zudem das schale Gefühl, dass die wahre geheime Geschichte der Moderne doch wieder verheimlicht worden ist.
Die Ausstellung »Künstler und Propheten. Eine geheime Geschichte der Moderne 1872–1972« ist bis zum 14. Juni in der Kunsthalle Schirn in Frankfurt zu sehen.
Erschienen in der Jungle World 16/15