Es klingt wie Satire: Noch vor wenigen Monaten präsentierte Präsident Barack Obama den Jemen als erfolgreiches Modell der Antiterrorpolitik der USA, sprach von einer »idealen Partnerschaft« und kündigte gar an, ein ähnliches Modell als »Teil einer Lösung für Syrien und den Irak« und insbesondere im Kampf gegen den »Islamischen Staat« (IS) anzustreben. Obamas Modell fußt auf einer Doppelstrategie: dem Krieg mit US-Drohnen und auf einheimischen Kräften, die die Bodentruppen stellen sollen. Der Einsatz von Drohnen hatte zur Folge, dass auch Hochzeitsfeiern bombardiert wurden und unbekannte Tote in Leichenhallen auftauchten.
Doch die mit den USA verbündete jemenitische Regierung mit ihren Bodentruppen existiert praktisch nicht mehr, seit die schiitische Houthi-Bewegung Ende Januar den Präsidenten Abd Rabbuh Mansur Hadi unter Hausarrest gestellt hat, um schließlich am 6. Februar das Parlament aufzulösen und durch ein »Revolutionskomitee« zu ersetzen. Es folgte die Schließung der US-Botschaft, das Botschaftspersonal wurde von Kämpfern der Houthi-Bewegung zum Flughafen geleitet, die danach ihren Fuhrpark um neue Jeeps erweiterten. Allerdings gab die Führung der Houthis kurze Zeit später zu verstehen, man habe die Autos nur bis zur Rückkehr der Amerikaner sicher verwahren wollen. Die wiederum beeilten sich zu versichern, sie hätten zurückgelassene Waffen unbrauchbar gemacht. Das gilt allerdings nicht für die Militärausrüstung im Wert von Hunderten Millionen US-Dollar, die die jemenitische Regierung in den vergangenen zehn Jahren von den USA spendiert bekommen hat und deren Verbleib zum größten Teil kaum noch nachvollziehbar sein dürfte. Einiges davon wird sich jedenfalls in einem Armeestützpunkt im Südjemen befunden haben, dessen Truppen sich gleichzeitig mit der Schließung der US-Botschaft dem jemenitischen al-Qaida-Ableger Aqap ergeben haben.
Nach der Botschaft der USA schlossen sukzessive weitere Botschaften, schließlich auch die deutsche sowie die saudische und die der Vereinigten Arabischen Emirate. China und Russland dagegen gaben zu verstehen, sie wollten nicht nur bleiben, sondern ihre Aktivitäten weiter ausbauen. Diese Ankündigung ist allerdings wohl eher reflexhafter antiwestlicher Symbolpolitik als realen Handlungsmöglichkeiten und Interessen geschuldet. Das Desaster im Jemen hat jedenfalls einen neuen Höhepunkt erreicht. Eine Resolution des UN-Sicherheitsrats vom 15. Februar fordert die Houthis auf, die Regierungsmitglieder freizulassen, sich aus der Hauptstadt Sanaa zurückzuziehen und keine weiteren einseitigen Schritte zu unternehmen. Man vergaß auch nicht, die Gewalttaten von al-Qaida zu verurteilen und die Rückgabe von dem Militär gehörenden Waffen anzumahnen. Das Dokument ist jedoch von Vorsicht geprägt, auch wenn die Houthi-Bewegung scheinbar eindeutig adressiert wird. Der auf der Initiative des Golfkooperationsrates von 2011 fußende Übergangsprozess, dem zu folgen die Houthis aufgefordert werden, ist nämlich obsolet. Und doch ist niemandem bisher eine Alternative zu diesem grundsätzlichen Neuaufbau des jemenitischen Staats eingefallen.
Eine wie auch immer geartete Lösung der Dauerkrise im Jemen ist zudem nur mit den Houthis denkbar. Und es spricht viel dafür, dass auch die Houthis mit der offiziellen Übernahme der Regierungsgewalt eher einem Handlungszwang folgten als einem Kalkül. Ohne finanzielle Hilfen droht umgehend der Kollaps des Restes an staatlicher Struktur, den der Jemen noch besitzt. Bereits seit den neunziger Jahren wird die Lage im Land immer instabiler, doch so nah an einem umfassenden Bürgerkrieg und einem völligen humanitären Zusammenbruch war es noch nie. Jamal Benomar, der UN-Sondergesandte für den Jemen, twitterte: »Lassen Sie mich deutlich sein: Der Jemen kollabiert vor unseren Augen.«
Eine Zeit lang, nach dem Ausbruch des »arabischen Frühlings« 2011, schien es Hoffnung zu geben. Den ausdauernden Protesten gegen das jahrzehntelang herrschende Regime des jemenitischen Präsidenten Ali Adullah Saleh folgte besagter Kompromiss des Golfkooperationsrates, der die Übergabe der Regierung an Hadi, einen »nationalen Dialog« und darauf fußend eine neue Verfassung vorsah. Es ging um nicht weniger als um eine Neugründung des Jemen. Zentral war dabei die Frage nach einer künftigen föderalen Struktur des Landes. Man diskutierte, begleitet von Kohorten internationaler Experten, über ein Jahr lang, es gab Verlängerungen der Fristen, Anschläge, politische Intrigen, eine fortwährend erodierende Ökonomie. Im Sommer 2014 war die drastische Reduzierung der Benzinsubventionen der Anlass für den nächsten Krisenschub. Nahezu ein Viertel des lediglich 14 Milliarden US-Dollar umfassenden Staatshaushalts für eine Bevölkerung von rund 25 Millionen Menschen wurden für diese im Alltag lebenswichtigen Subventionen verbraucht. Die angedrohte fast 100prozentige Preiserhöhung ermöglichte den Houthis den Griff nach der Macht in Sanaa. Sie präsentierten sich dabei erfolgreich als überkonfessionelle Protestbewegung, die die Forderungen der Demonstrierenden von 2011 nach Ablösung der alten, extrem korrupten Eliten weitertragen wolle.
Der Ursprung der Houthis liegt in einem über Stammeszugehörigkeit und Religion definierten Gebiet im Norden des Landes. Ihre Basis besteht aus Zaiditen, Anhängern einer schiitischen Konfession, die bis zur Revolution 1962 im Nordjemen das Herrscherhaus stellte. Die Bewegung der Houthis entstand in den neunziger Jahren, ab 2004 führten ihre Anhänger eine Reihe von Kriegen gegen die Zentralregierung mit ihrem Präsidenten Ali Abdullah Saleh, übrigens selbst ein Zaidit. Wie umfassend die Unterstützung des Iran für die schiitischen Houthis bei all dem war und ist, bleibt umstritten; immerhin feierte ein iranischer Parlamentarier in einer Stellungnahme anlässlich der Erfolge der Houthis das jemenitische Sanaa bereits als vierte arabische Hauptstadt, die in die Hände des Iran gefallen sei – nach Beirut, Damaskus und Bagdad.
Aber ganz so einfach ist es nicht. Weder kann der Iran ab jetzt die Rechnungen aus Sanaa bezahlen, noch beherrschen die schiitischen Houthis mehr als einen Teil des ehemaligen Nordjemen – vom Süden und den Gebieten unter Kontrolle al-Qaidas oder diverser sunnitischer Stammeskonföderationen ganz zu schweigen. Deutlich ist dagegen, dass die mittlerweile in Ansar Allah umbenannte Organisation der Houthis nach dem Vorbild der Hizbollah modelliert worden ist: Die »Sarkha«, Slogan und kalligraphiertes Symbol der Bewegung, verflucht die Juden und wünscht Israel und Amerika den Tod. Ausgerechnet im Jemen, der 2 000 Kilometer von Israel entfernt ist und nun wahrhaft existentielle hausgemachte Sorgen hat. Allerdings gehört es ebenfalls zu den Errungenschaften der Houthis, auch noch die letzten der verbliebenen jemenitischen Juden aus ihrem uralten Siedlungsgebiet in der Houthi-Hochburg Saada vertrieben zu haben.
Ein politischer Akteur neben den Houthis ist der ehemalige Präsident Saleh, der mit seinen 33 Regierungsjahren nicht nur zur Spitzenklasse arabischer Diktatoren gehörte, sondern der es auch als einziger von ihnen geschafft hat, seine Absetzung politisch zu überleben. Seine Kämpfer kontrollieren nun mit den Houthis zusammen Sanaa. Zu den großen Verlierern gehört derzeit die Partei al-Islah, die die Muslimbrüder repräsentierte und im Windschatten der Ereignisse in Ägypten zunächst der Gewinner des »arabischen Frühlings« im Jemen zu sein schien – bis sie im Sommer 2014 von den Houthis militärisch und politisch geschlagen wurde.
Im Süden des Jemen agiert außerdem die separatistische Bewegung Hirak, die längst uneins darüber ist, ob sie Autonomie, Unabhängigkeit oder Föderalismus fordern soll. Einige Verwaltungsbezirke des Landes haben nach der Machtübernahme durch die Houthis schon erklärt, sich nicht an Weisungen aus der Hauptstadt Sanaa gebunden zu fühlen. Darüber hinaus gibt es Aqap, den regionalen Arm von al-Qaida, der gegen die Houthis gerne mit konfessionellen Argumenten mobilisiert und seine Machtposition in weiten Teilen des menschenleeren Südjemen, aber auch in den sunnitischen Stammesgebieten des Nordens ausbaut.
Die Houthis haben, nach guter, alter Hizbollah-Tradition, im Sommer 2014, als sie de facto die militärische Kontrolle über Sanaa übernahmen, nicht direkt auch die politische Macht ergriffen, sondern ein »Freundschafts- und Partnerschaftsabkommen« mit der Regierung Hadi unterzeichnet – was Obama die Möglichkeit gab, das Modell Jemen als Erfolg zu feiern. Es folgte das Übliche: Destruktion, Intrigen, Anschläge, Destabilisierung. Im Dezember wurde die sogenannte Potsdam-II-Konferenz abgehalten. Diese war ein Beispiel für das erfolglose Bemühen Deutschlands, im Jemen, dem Hätschelkind bundesrepublikanischer Entwicklungshilfe, ein bisschen Einfluss zu zeigen. Die Ereignisse im Jemen demonstrieren nicht zuletzt auch ein Scheitern des Vorzeigemodells deutscher Entwicklungshilfe.
Vertreter der Houthis waren auch in Potsdam vertreten, aber die Empfehlungen, wie die Aufhebung bewaffneter Checkpoints in Sanaa, kamen offenbar nicht bei ihrer Führung an. Denn bald darauf übernahmen Houthi-Truppen im Januar den Präsidentenpalast, setzten die Regierung unter Hausarrest, stellten ihre neuerlichen Forderungen und wurden offensichtlich vom Rücktritt des Präsidenten Hadi überrascht, der plötzlich nicht mehr mitspielte. Nun müssen die Houthis in Sanaa alleine regieren, sie setzten ein »Supreme Revolutionary Committee« ein. Die USA schlossen ihre Botschaft, aber von den Drohnenangriffen wollte Obama nicht lassen, demonstrativ wurden seit Ende Januar mehrere tödliche ferngesteuerte Angriffe geflogen. Offiziell hat sich für die US-Regierung an ihrem Vorzeigemodell Jemen trotz der Evakuierung der Botschaft nichts geändert.
Die humanitäre Krise des Jemen bleibt bestehen. Man kann sich fragen, wie die Bevölkerung bisher überhaupt überlebt hat. Dem jüngsten Bericht der britischen Hilfsorganisation Oxfam zufolge hat der Jemen nicht nur eine der höchsten Müttersterblichkeitsraten weltweit, auch Unterernährung ist weit verbreitet: 60 Prozent der Kinder haben Wachstumsverzögerungen; 16 der 25 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner schätzt Oxfam als hilfsbedürftig ein. Weitere Katastrophen drohen in der näheren Zukunft: Dem bevölkerungsreichsten Land der arabischen Halbinsel geht das Wasser aus. Sanaa gilt als erste Hauptstadt der Welt, die bald ohne funktionierende Wasserversorgung existieren muss.
erschienen in der Jungle World 8/15