Die Geschichten, die der Historiker Charles King in seinem Buch »Mitternacht in Pera Palace« über »die Geburt des modernen Istanbul« erzählt, führen durch die Jahre zwischen den beiden Weltkriegen, als die Türkei als Nationalstaat geschaffen und die Grundlage für die heutigen Verhältnisse im Nahen Osten gelegt wurde. Nicht nur der Name Konstantinopels wurde damals »türkisiert«. Der Prozentsatz der nichtmuslimischen Einwohner ging zwischen 1900 und 1930 von 55 Prozent auf unter 35 Prozent zurück, durch die linksnationalistischen Pogrome der fünfziger Jahre wurden die restlichen Griechen nahezu gänzlich vertrieben. Die Ingredienzien Istanbuler Stadtgeschichte in den Jahrzehnten nach 1900 kennt man aus den konfliktreichen Phasen des 20. Jahrhunderts: Pogrome, Vertreibungen, Krieg, alliierte Besatzungszeit und immer wieder Flüchtlinge, die in die Stadt kommen, wie die vertriebenen und zu Türken erklärten muslimischen Einwohnern Salonikis und die Flüchtlinge aus dem russischen Bürgerkrieg. Heute sind es Syrer, die nach Istanbul fliehen.
Aber es gibt auch das andere Istanbul, die Invasion des Jazz und die Eliten des Kemalismus, die die mondänen Nachtklubs frequentieren. Die Widersprüche und Konflikte, die die Geschichte von Istanbul prägen, sind bis heute zentrale Probleme der ganzen Region: ethnische beziehungsweise religiöse Homogenisierung, Vertreibungen und ein staatlicher Säkularismus, der in der politischen Praxis jedoch zugleich sunnitische Islamisierung bedeutet. Die Wirkung des Nationalismus auf den religiös und ethnisch zersplitterten Nahen Osten war verheerend; auch die Rezeption der Region in Europa als primär islamische ist einer Kette von Vertreibungen, Massakern und Auswanderungswellen spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts geschuldet. Die derzeitigen Konflikte in Syrien oder dem Irak sind nur ein weiterer Höhepunkt dieser Entwicklung.
Die Stadt am Bosporus samt ihrer Geschichte ist nur scheinbar ein »exotisches« Terrain mit touristischen Sehenswürdigkeiten wie der Blauen Moschee. Die Umwälzungen der Moderne finden sich in Istanbul an bestimmten Punkten der Stadt geradezu symbolhaft verdichtet: Besonders markant war das im jahr 2013 bei den Protesten rund um den Gezi-Park zu sehen. Ausgangspunkt war die vom damaligen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan geplante Errichtung eines Einkaufszentrums, dessen Fassade einer osmanischen Kaserne nachempfunden war, wobei der den Park umgebende Taksim-Platz historisch die kemalistische Türkei repräsentiert, die eben jenes Osmanische Reich kurzerhand beerdigt hat, an das Erdoğan so gerne symbolisch erinnert.
Kings hervorragend lesbarer Überblick über die Gründungsjahre und ersten Jahrzehnte der Türkei fokussiert auf die Gegend von Beyoğlu als dem klassischen »europäischen« Viertel Istanbuls. Das hat seine historische Berechtigung, allerdings fehlt ein Blick auf die damaligen Ränder der Stadt, die heute so weit ausgeufert sind, oder auf die Gegenmodelle zu Beyoğlu, etwa in Fatih, einem Stadtbezirk, nach dem mittlerweile das ganze alte Stadtgebiet vom ehemaligen Sultanspalast bis zu den byzantinischen Stadtmauern benannt ist.
In Fatih herrscht die AKP in den Köpfen und auf der Straße, und die osmanische »Eroberermoschee« ist nicht zufällig von Erdoğan so aufwendig restauriert worden. Hier hat man auch keine Mühe, syrische Islamisten zu finden. Aber auch die AKP-Moderne jenseits von Pluderhosen und Gesichtsverschleierung kann man in Fatih besichtigen, etwa in Sulukule, einem Viertel, in dem Roma wahrscheinlich schon seit über 1 000 Jahren gelebt haben – bis die AKP-Stadtregierung die angestammte Bevölkerung aus dem verslumten Gebiet warf und es mit Reihenhäusern bebaute, die trotz aller pseudoosmanischen Applikationen sehr deutsch wirken.
Den jüngsten Vertreibungen entsprechen die historischen. In den ehemals jüdischen und griechischen Stadtteilen Fener und Balat kann man noch die verbliebenen Institutionen der ehemaligen Bewohner, wie Schulen und Patriarchate, auffinden, die hinter den schützenden Stacheldrahtrollen und Zäunen eher wie Gefängnisse aussehen. Allerletzte Lokale mit Alkoholausschank halten hier noch die Fahne der Weltlichkeit hoch, in diesen Vierteln an den Abhängen des Goldenen Horns waren einst die berühmten Beyhanes zu finden, die Weinkneipen Konstantinopels. In Straßen, die einmal das Zentrum dieser Trink- und Feierkultur waren, finden sich nurmehr kleine Läden, in denen Limonade und Wasser von konservativen Muslimen verkauft werden.
Drei Kilometer Luftlinie einmal quer über das Goldene Horn sind in Istanbul eine Entfernung, die ganze Welten voneinander trennt. Die AKP-Stadtteile Fatihs stehen gegen Beyoğlu mit dem alten Pera, dem Zentrum von Kings Stadtbiographie. Beyoğlu ist einer der Hauptanziehungspunkte für den Tourismus, hier ist es ein bisschen wie in Berlin oder New York City, mit neuen Townhouses zwischen den letzten, noch unsanierten Häusern aus der Glanzzeit von Pera, als die Istiklal Caddesi, die Unabhängigkeitsstraße, noch Grand Boulevard de Pera hieß. Wie ein Symbol für die Unwirklichkeit der Stadtmoderne fährt hier die hübsche Nostalgiestraßenbahn durch die İstiklal zum Taksim-Platz. Die Atmosphäre der spätosmanischen Ära, als betuchte Reisende mit dem Orient-Express kamen und eines der Grand Hotels der Gegend bewohnten, ist dank der Art-Deco-Bauten noch vorstellbar, aber das meiste ist nur noch aufgehübschte Fassade. Die Straßenbahn ist ein Neubau aus altem Material, in den siebziger und achtziger Jahren war die İstiklal eine von Autos verstopfte, heruntergekommene Straße, in der Pornokinos und Kneipen zu finden waren. Die Seitenstraßen waren voller Nachtclubs und die ganze Gegend ein Zentrum der Prostitution. Eine Umgebung, in der man sich den Dichter Ka gut vorstellen kann, den melancholischen, zerrissenen Protagonisten aus Orhan Pamuks berühmtem Roman »Schnee« über die Islamisierung der Türkei. Pamuk lässt den Dichter passend im Exil eines grauen, nasskalten Frankfurter Bahnhofsviertels leben, das einmal eine ähnlich unwirtliche, aber gnadenlos »echte« Gegend war wie diese Istanbuler Gegend. Ende der achtziger Jahre konnte man sich sehr gut vorstellen, dass der ganze Stadtteil mit seinen zerfallenden Bauten bald verschwunden sein würde.
Aber es kam ganz anders; die İstiklal ist nun eine Fußgängerzone, in der man so gut wie kein Kopftuch sieht. Die schäbigen Nachtclubs sind Restaurants und Bars gewichen. Hier und da hat man unter dem Putz zutage getretene alte Geschäftsaufschriften aus den zwanziger Jahren liebevoll restauriert, der Bezug auf das alte Pera ist schick. Auch das »Pera Palace« ist grundüberholt, und wenn im nahen, privatfinanzierten Pera-Museum die Hautevolee des Istanbuler Bildungsbürgertums zum Eingang strömt, beispielsweise für eine Ausstellung mit Fotografien, die das moderne »Neue Leben« der Republik in den dreißiger Jahren feiert, dann ist es hier wohl ein bißchen wie früher. Das Museumsgebäude war einst ebenfalls ein Luxushotel. Auf den Bürgersteigen der Umgebung leben heute syrische Flüchtlingsfamilien. Vom Museumseingang aus blickt man im weiten Rund über die in den siebziger Jahren mit einem Parkhaus verschandelte kleine Parkanlage hinweg, die einmal Petit Le Champs hieß, auf Viertel, in denen die Häuser noch unrenoviert in sich zusammenfallen und viele Bewohner Kurden sind. Das ist alles künftiges Sanierungsgebiet. Nur dass danach kaum noch ein Kurde hier wohnen dürfte.
Wie eine Drohung liegen die gigantischen Kreuzfahrtschiffe wie umgekippte Hochhäuser nahe der Galatabrücke im Wasser des Bosporus. Von einem der Fährschiffe aus wirkt die Stadt klein. Das ist neben der AKP die andere Bedrohung der alten Viertel auf dem Hügel von Pera und Galata: Vom Massentourismus ist Istanbul nicht anders betroffen als Barcelona, Venedig, Paris oder Berlin. Das Einkaufszentrum mit neoosmanischer Fassade, das Erdoğan so gerne am Taksim-Platz statt des Gezi-Parks sehen will, würde bald zum Shopping-Tipp. Die wunderbaren Buchhandlungen in der İstiklal kämpfen längst wegen der hohen Mieten ums Überleben und die Librairie de Pera, der älteste Buchladen Beyoğlus, dessen Schaufenster die Klassiker der nahöstlichen Reiseliteraur in bibliophilen Ausgaben bestückten, hat seinen Standort einem simplen Souvenirladen überlassen müssen. Es ist der alte Fluch des Tourismus: Das, was er verkaufen will, zerstört er zugleich. Geprägt von H & M und Media Markt wirkt die İstiklal nicht mehr unbedingt attraktiver als die Frankfurter Zeil – auch wenn nachts doch wesentlich mehr los ist. In den engen, steilen Straßen findet man schon längst das Café im New Yorker Stil neben dem alten Barbier, der aber auch schon Preise nimmt, die weit oberhalb derer türkischer Friseure des Frankfurter Bahnhofsviertels liegen. In diesen Gassen in Richtung Bosporus liegt auch das einem Roman von Orhan Pamuk gewidmete »Museum der Unschuld«. Ein melancholischer Ort.
Erschienen in der Jungle World 50/15