Die Diskriminierung und Verfolgung von Christen im Nahen Osten hat eine ebenso lange und verhängnisvolle Geschichte wie die Gleichgültigkeit des Westens.
Es geschah im August in Simele, einer Kleinstadt nahe Dohuks an der türkisch-irakischen Grenze: Eine Gruppe schwerbewaffneter Männer eröffnete nach der widerstandslosen Entwaffnung der dort lebenden assyrischen Christen das Feuer auf die Einwohner. Als sich einige der Menschen dicht gedrängt in ihre Häuser zu retten versuchten, wurde durch die Fenster geschossen, bis sich dahinter nichts mehr regte. In den Wochen zuvor war es bereits zu Überfällen auf assyrische Ansiedlungen und zu Massentötungen gekommen, über 60 Dörfer im Nordirak waren betroffen, vermutlich rund 3 000 Menschen mussten ihr Leben lassen. Empörung im Westen war die Folge, für ein paar Tage war das Thema in aller Munde: die gewaltsame Verfolgung der Christen im Irak.
Nein, die Rede ist hier nicht von al-Qaida oder anderen islamischen Gotteskriegern, die erst im November 2010 zur finalen Vernichtung des orientalischen Christentums aufgerufen haben. Die Täter gehörten der damals gerade neu geschaffenen irakischen Armee an. Denn das Massaker von Simele, für das erstmals der Begriff Genozid Verwendung fand, ereignete sich im Jahre 1933. Wie der Völkermord an den Armeniern zuvor das Fundament der modernen Türkei legte, so standen am Beginn der irakischen Staatswerdung die Massaker an den Assyrern, die man nicht etwa zu vertuschen versuchte, sondern sogar als Heldentaten feierte: Den irakischen Soldaten wurde eine triumphale Heimkehr bereitet, in Mossul errichtete man Ehrenbogen, symbolhaft bestückt mit blutbespritzten Melonen, in denen Dolche steckten, der Einzug des Militärs in Bagdad muss Zeitzeugen zufolge wie ein Rausch auf die jubelnde Bevölkerung gewirkt haben.
Für den Autor von »Republic of Fear«, des Standardwerks über den Irak unter Saddam Hussein, Khanan Makyia, manifestierte sich in den Morden an den Assyrern »ein nahtloses Netz religiöser, tribaler, ethnischer, nationalistischer und militaristischer Gefühle«, das zu einer »neuartigen Form der Hysterie und konfessioneller Politik« unter dem Label »Antiimperialismus« geführt habe. Alles, was später so leidvoll den modernen Irak ausgemacht habe – die nationalistische Hysterie, grassierende Verschwörungstheorien, eine weitgehende Militarisierung und später Islamisierung der Gesellschaft –, habe hier seinen ersten, genuinen Ausdruck gefunden.
Im August 1933 kamen paradigmatisch Entwicklungsstränge zusammen, die eine immer breitere Spur der Verheerung durch die Region des Nahen Ostens ziehen sollten – bis heute. Der Bombenanschlag auf die koptischen Kirchgänger in Alexandria zum Jahreswechsel war keineswegs nur ein perverser Akt islamistischer Glaubenskrieger. Es geht um die lange und zuletzt fast nur noch desaströse Geschichte einer ganzen Weltregion im Zeichen des Islam.
Die blutige Geschichte des 20. Jahrhunderts in der Region ließe sich auch als eine der systematischen Vertreibung und Auschaltung aller nichtmuslimischen Gruppen schreiben. Ob auf dem Gebiet der heutigen Türkei, in Ägypten, dem Irak oder im Iran: Vor 100 Jahren noch lebten hier Millionen von Christen und Juden, in Städten wie Bagdad stellten arabische Muslime nicht einmal die Mehrheit der Bevölkerung. Dann rollte über den Orient jene Welle ethnischer und nationaler Homogenisierung hinweg, die gleichzeitig auch in Mittel- und Osteuropa zu Massenvertreibungen von Minderheiten aller Art führte. Dies lässt sich an den Assyrern im Irak beispielhaft zeigen. Aus Menschen, die sich selbst darauf beriefen, seit biblischen Zeiten in ihren Landstrichen zu leben, war 1933 plötzlich ein Problem geworden, das es zu »lösen« galt – für den frischgebackenen »arabischen« Nationalstaat Irak ebenso wie für die Mandatsmacht England, und nicht zuletzt auch für den Völkerbund. Ein Teil der Betroffenen der Pogrome vom August 1933 waren bereits Vertriebene. Neben den christlichen Armeniern als Hauptzielgruppe der Auslöschung waren auch Assyrer von der Verfolgung durch die jungtürkische Regierung während des Ersten Weltkriegs betroffen. Sie mussten damals aus ihren Siedlungsgebieten im heutigen Südosten der Türkei flüchten. Nur um der nächsten Nationalstaatswerdung in die Quere zu kommen, diesmal der arabischen Iraker.
Die Briten wiederum hatten sich die ungesicherte Lage der Assyrer nach dem Ersten Weltkrieg zu Nutze gemacht und mit Hilfe assyrischer Verbände die nationalistische arabische Aufstandsbewegung im Irak erfolgreich bekämpft. Die auf britische Sicherheitsgarantien hoffenden Christen wurden von der Mandatsmacht allerdings auch schnell wieder fallen gelassen, nachdem sich die beharrlichen Bemühungen der Assyrer, ein gesichertes Territorium innerhalb des entstehenden irakischen Nationalstaates einzufordern, politisch mehr und mehr als störend erwiesen. Den aufkeimenden arabischen Nationalismus zu bedienen, erschien aus britischer Sicht realpolitisch erfolgversprechender, Massaker an Christen hin oder her.
Die Assyrer schafften es allerdings, dass sich der Völkerbund ihrer Sache annahm; und hier schließt sich der historische Leidenskreis der christlichen Iraker in der Gegenwart. Forderten sie Anfang der dreißiger Jahre vom Völkerbund wenn nicht eine eigene christliche Provinz im Irak, dann eben die gesicherte Auswanderung, so hat diese 80 Jahre und zahl- und namenlose Tote später längst stattgefunden, vor allem in den vergangenen 20 Jahren. Christliche Iraker leben heute in Deutschland, Schweden oder Australien, im Zweistromland existieren sie nurmehr auf Abruf. Und wie schon einmal Jahrzehnte zuvor fordern die noch Zurückgebliebenen angesichts von gezieltem islamistischem Terror, der sich in Morden, Vergewaltigungen und Entführungen entlädt, erneut eine autonome Christenprovinz im Irak. Dass sich diesmal an Stelle Englands die USA für sie einsetzen werden, ist wiederum mehr als fraglich. Gilt es doch realpolitisch und kurzfristig erneut, andere Interessen zu bedienen, mittlerweile weniger nationalistische als nun vielmehr vermeintlich »muslimische«. Immerhin hat der irakische Staatspräsident Jalal Talabani im vergangenen Jahr geäußert, er habe keine Einwände gegen eine christliche Provinz. Dass diesen Worten Taten folgen werden, scheint aber mehr als unwahrscheinlich.
Kopten wie orthodoxe Assyrer, Maroniten, Chaldäer-Katholiken sowie weitere religiöse Splittergruppen – sie waren dem Abendland sowieso immer eher suspekt. Wenn es gerade passte, ob zu Zeiten der Kreuzzüge oder im Zuge imperialer Unternehmungen des 19. Jahrhunderts, war man kurzfristig bereit, auf das Schicksal der Christen hinzuweisen und sich, wie im Falle der Maroniten im Libanon, als deren Schutzmacht zu gerieren. In der Regel aber waren orientalische Christen schlecht beraten, sich an Europa oder später die USA als vermeintliche Schutzmächte zu wenden: Von ihren Landsleuten als Agenten des »Imperialismus« verfolgt, blieb regelmäßig jede Hilfe von außen aus. Franz Werfel hat in seinem Roman »Die 40 Tage des Mussa Dagh« festgehalten, wie Europa dem Völkermord an den Armeniern zuschaute. Die wenigen Überlebenden wurden zwar im Roman wie in der Wirklichkeit von der Entente evakuiert, aber nur um die Männer postwendend wieder zu bewaffnen und sie in sinnlosen Kämpfen gegen die Soldaten Atatürks zu verheizen.
Heute werden die Christen des Nahen Ostens allenfalls als bedrohte exotische Spezies auf der Artenschutzliste gesehen, wenn nicht gleich die Perspektive ihrer Verfolger übernommen wird. Da wird reflexhaft auf die gewalttätige Geschichte des Christentums verwiesen, als ob man die gezielten Vergewaltigungen von christlichen Mädchen in Bagdad gerechterweise dagegen aufrechnen könne. Aus antiimperialistischer Perspektive gesehen stehen die orientalischen Christen unter dem Verdacht, es zumindest verdeckt mit dem Westen zu halten. Auch für die panarabischen Mörder von Simele war das keine Frage, ebenso wenig wie für al-Qaida heute. Massaker an Christen galten und gelten als heroischer Widerstand gegen Imperialismus, Zionismus und andere Feinde. Da hilft es nicht, dass die ortsansässigen religiösen christlichen Führer seit Jahrzehnten fast unterwürfig ihre Loyalität mit den je regierenden Machthabern erklären und in der Regel sogar jederzeit bereit sind, im Westen und in Israel die Wurzel allen Übels zu sehen. Sie stören einfach das so simpel wie erfolgreich gestrickte dichotomische Weltbild von Gut und Böse im Nahen Osten. Dieses scheinbar so eindeutige Geschichtsbild, das gerne mit einer teils genüsslichen Selbstanklage unterlegt wird, wird der Realität der Region jedoch nicht gerecht.
So stellen die Massaker an den Assyrern 1933 ein weiteres verstörendes historisches Verbrechen dar. Wie so oft im Nahen Osten der vergangenen 100 Jahre folgte der Tragödie die nächste. Es waren ausgerechnet kurdische Stammeskrieger, die der Aufforderung der Araber, sich an ihren assyrischen Nachbarn zu vergehen, nicht hatten widerstehen können. Wie schon beim Massenmord an den Armeniern, als kurdische Irreguläre Seite an Seite mit der osmanischen Armee über benachbarte Christen hergefallen waren. Zu der furchtbaren Logik der neueren Geschichte des Nahen Ostens gehört, dass die Kurden von Handlangern der Vertreibung von Armeniern und Assyrern umgehend selbst zur nächsten Zielgruppe ethnischer Bereinigung wurden. Der Einbruch nationalistischer Ideologie und ihrer modernen Machtmittel in diese damals partiell noch archaischen, tribal strukturierten osmanischen Provinzen zerstörte das fragile, über Jahrhunderte gewobene ethnisch-religiöse Geflecht. Ein unerbittlicher Prozess wurde damit in Gang gesetzt, der im vergangenen Jahrzehnt eine Beschleunigung erfahren hat. Längst erscheint der Nahe Osten im Weltbewusstsein als genuin muslimische Region, die offenbar nie etwas anderes gewesen sein kann; dabei ist dieser monochrome muslimische Orient, in dessen Schattierungen man höchstens noch die Unterscheidung zwischen Sunniten und Schiiten, Kurden, Türken, Arabern und Persern wahrnimmt, erst ein Ergebnis jüngster Geschichte. Denn anders als Europa war die »muslimische Welt«, also jenes Gebiet zwischen der Straße von Gibraltar und Indonesien, religiös nie homogen. Im Gegenteil: Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein regierten muslimische Herrscher über Gebiete, in denen sogar teilweise die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung nicht islamisch war.
Vor allem das von den Muslimen seit dem 7. nachchristlichen Jahrhundert eroberte Gebiet zwischen Spanien und dem Iran war zivilisatorisch und religiös hochentwickelt und ausdifferenziert. Die arabischen Muslime übernahmen dort als Eroberer Staats- und Wirtschaftssysteme, denen ihre eigenen strukturell unterlegen waren. Sie traten demgemäß über lange Zeit vornehmlich als religiös begründete Kriegerkaste auf, die Handel oder Verwaltung Nichtmuslimen oder Konvertiten überließ. Ein Muster, das sich speziell noch im letzten großen muslimischen Imperium, dem osmanischen, wiederfindet. Im Unterschied zur Christianisierung Nord- und Mitteleuropas war die ursprüngliche Ausbreitung des Islam nicht missionarisch, sondern vornehmlich militärisch. Das ist ein historisch vermutlich sehr wirkungsmächtiger Unterschied zwischen »Ost« und »West«, der jenseits von theologisch-ideologischer Aufrechnerei eher zum Verständnis von solchen Phänomenen wie dem »toleranten« Spanien der Mauren oder dem »kosmopolitischen« Bagdad der Abbasiden beiträgt. Nichtmuslimische Gruppen wurden, abgesehen von Zeiten offener Verfolgung, die es auch und immer wieder gab, programmatisch geduldet, solange sie sich als »Dhimmis« dem islamischen Staat unterwarfen und eine strukturelle Entrechtung im Alltag in Kauf zu nehmen bereit waren. Die muslimischen Herrscher zielten eben nicht darauf ab, gnadenlos zu missionieren, sie hatten allein schon durch Steuern für Ungläubige ihren Vorteil. Die Existenz von orientalischen Christen stellte so weder das Selbstverständnis der muslimischen Herrscherkaste in Frage, selbst einer überlegenen Religion und Kultur anzugehören, noch warf es grundlegende staatspolitische Probleme auf. Im Gegenteil, im Osmanischen Reich etwa bestand ein großer Teil der Verwaltungs- wie Militärelite fortwährend aus Konvertiten.
Dies änderte sich, als man auch im Nahen Osten allerorten begann, sich für moderne nationalstaatliche Ideen zu erwärmen. Mit dem Aufkommen der Muslimbruderschaft und anderer dezidiert islamistischer Organisationen wuchs sich »der Islam« zugleich zu einer politischen Ideologie aus. Diese Gemengelage erwies sich als fatal, die Religionszugehörigkeit wurde zu einem nationalen Politikum. Auch wenn der scheinbar säkulare Panarabismus Christen inkorporierte, hatten diese sich bereitzuerklären, fortan als christliche »Araber« zu fungieren und die Überlegenheit der arabischen Kultur und damit letztlich des Islam anzuerkennen.
Hingegen ging es den nahöstlichen Minderheiten weniger darum, religiöse Toleranz einzufordern, sondern nationale Rechte. Die Tragödie des 20. Jahrhunderts aber ist: Nur dort, wo es Minderheiten gelang, sich nationalstaatlich zu etablieren, war ihr Überleben gesichert. Dafür steht Israel, aber auch Armenien. Insofern ist der Konflikt um die nahöstlichen Christen auch weit mehr ein nationaler als ein religiöser und erinnert deshalb so ungut an europäische Geschichte selbst. Eine Zukunft haben die Christen im Nahen Osten nur, sollte sich die Region endlich grundlegend transformieren. Säkulare Rechtsstaaten müssten entstehen, in denen der einzelne Bürger im Zentrum steht und nicht das vermeintliche muslimische Hauptkollektiv mit untergeordneten Minderheitengruppen, denen mal mehr, mal weniger Rechte zugebilligt werden.
Der Appell an arabische Potentaten, in Zukunft doch bitte noch mehr Polizei vor Kirchen zu postieren, wird jedenfalls nicht weit führen. Nur bis zum nächsten Anschlag. Denn nicht al-Qaida ist das eigentliche Problem und nicht Mubarak. Weil es auch im Westen kein Interesse gibt, eine grundsätzliche Veränderung zu forcieren, sondern nur, Stabilisierung zu betreiben, wird alles wohl beim Alten bleiben. Das geheuchelte Mitgefühl mit den Christen im Irak, Ägypten und anderswo in der Region ist ebenso berechenbar wie die plötzliche Flut der zu Anfang des Jahres veröffentlichten Artikel über Christenverfolgung. Sie werden so schnell ins Archiv wandern wie die aus dem Jahre 1933. Und die Christen werden weiter vor der Wahl stehen, auf den nächsten Anschlag zu warten oder eben die Koffer zu packen.
(Zusammen mit von Thomas von der Osten-Sacken)
Erschienen in der Jungle World 2/11